M. Roos u.a. (Hrsg.): Exploring Textbooks and Cultural Change in Nordic Education 1536–2020

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Title
Exploring Textbooks and Cultural Change in Nordic Education 1536–2020.


Editor(s)
Roos, Merethe; Berge, Kjell Lars; Edgren, Henrik; Hiidenmaa, Pirjo; Matthiesen, Christina
Published
Extent
XIV, 388 S.
Price
€ 50,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Daniel Bellingradt, Institut für Buchwissenschaft, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Unter der Obhut von fünf Herausgeberinnen und Herausgebern wurden in dem vorliegenden Band 32 Expertinnen und Experten für eine ungewöhnliche Langzeitperspektive zur Bildungsgeschichte Nordeuropas versammelt. Laut der Einleitung von Merethe Roos und Kjell Lars Berge wird in dem Sammelband beabsichtigt, nach spezifischen Zusammenhängen von Lehr- und Schulbüchern („textbooks“) und einer als distinktiv wahrgenommenen nordischen Kultur und Bildung während der letzten rund 500 Jahre zu suchen. Dass es in der als „the Nordic“ gefassten Region Europas – worunter gewöhnlich ein um Finnland, Island, die Färöer und Grönland erweitertes Skandinavien verstanden wird – ein „shared set of values in education“ (S. 2) beziehungsweise „a particular kind of Bildung“ (S. 3) festzustellen gibt, wird dabei als Ausgangspunkt der Erkundung vorausgesetzt. Als Quellen jener unterstellten besonderen Bildungsausprägung, die in vielen Beiträgen des Bandes als konstitutiver Teil und kulturelle Prägekraft einer „Nordic DNA“ explizit erwähnt wird, dienen eine Vielzahl an (papiernen und digitalen) Lernmaterialien, die in privaten, kirchlichen und öffentlichen Einrichtungen in den erwähnten Ländern und historischen Regionen zu Bildungszwecken nachweislich entworfen, umgesetzt und genutzt worden sind: nämlich Katechismen, Manuale, Gesangsbücher, Lesebücher (Schwedisch „läsebok“; Norwegisch und Dänisch „læsebog“), Schreiblernhefte usw. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser buchförmigen Publikationen versucht der Oberbegriff „textbooks“ als „learning material“ irgendwie zu bändigen, auch wenn eine nähere terminologische Schärfung oder Erklärung von „textbooks“ in der Einleitung ausbleibt. Hingegen die Frageschwerpunkte, die an jene Lernmaterialien gestellt werden sollen, werden explizit erwähnt. Alle 32 Autorinnen und Autoren wurden angehalten, das jeweilige Quellenmaterial nach drei „key perspectives“ zu beleuchten: Erstens sollte nach Spuren obrigkeitlicher Beeinflussung und Kontrolle zu fragen sein; zweitens sollten Horizonte von Partizipationsmöglichkeiten seitens der Lernenden zu hinterfragen sein; und drittens sollte nach inhaltlich greifbaren Akteuren und Ideen Ausschau gehalten werden.

Es sind diese vagen Analyse-Vorgaben zu möglichen Einwirkungskräften, Hemmfaktoren und Themenauswahl, die die kurzen Beiträge des Bandes prägen. Chronologisch strukturiert von der Reformationszeit bis in die digitale Gegenwart, durchschreitet man lesend eine Vielzahl von kurzen Momentaufnahmen, epochalen Einordnungen und Fallbeispielen. Als Gliederungseinheiten dienen etablierte historiografische Etappenordnungen aus der neuzeitlich-modernen Geschichte Nordeuropas. Jeder Gliederungseinheit – „The Reformation and Its Aftermath“ (1500-1770), „The Enlightenment“ (1770-1820), „The Growth of Nationalism and the Formation of Democracy“ (1820-1920), „The Formation of the Welfare State“ (1930-2000) und „Globalisation and Digitalisation“ 1990-2020) – ist zum besseren Verständnis der jeweiligen Phase eine kurze Zwischeneinleitung vorangestellt. Je nach Entscheidung der Autorinnen und Autoren werden in den vielen Kapiteln mit unterschiedlicher Stringenz und Qualität Fragen zu externen Einwirkungskräften auf verschiedene Lernmaterialien und Lehrplanungen, auf materielle und immaterielle Hemmfaktoren sowie auf die inhaltliche Themenausgestaltung der jeweiligen „textbooks“ ausgelotet. Liest man das Buch von vorne bis hinten durch, was kaum der Normalfall sein dürfte, so fallen in den Ausführungen etwa zu den Reforminitiativen seitens der lutherischen Orthodoxie aus der Frühen Neuzeit, in den Erklärungen zur Vielzahl von säkularen Reformen „von oben“, die mal mit mal ohne Nationalisierungs-Impetus im 19. Jahrhundert implementiert wurden, und auch in den digitalen Strategien des Lernstoffaufbereitens in der Gegenwart Muster der Beeinflussung und Restriktionen rund um „textbooks“ auf. Zugleich offenbaren sich in der Lektüre aber auch sehr viele kleine Sonderwege und Extra-Initiativen mit lediglich regionaler oder temporärer Relevanz.

Die Bildungs-Prägekräfte der Frühen Neuzeit (Protestantismus) nehmen tendenziell an Bedeutung nach dem 19. Jahrhundert ab und das Nationale wird zu einer säkularen und staatsformenden Idee, die beim Erlernen der eigenen Geschichte und Muttersprache in Wort und Schrift zum Bildungsargument mutiert. Sichtbar werden solche Transformationen in der Bildungsgeschichte, wenn beispielsweise aus elitären Lateinschulen allmählich sogenannte Bürgerschulen („borgerskole“) mit verpflichtendem Schulbesuch werden. Auch im Norden Europas wurde aus Bildungsangeboten rasch eine Bildungsnorm, bei denen die eingesetzten und genutzten „textbooks“ auch von der Lehrerausbildung, den Schulbauten und der generellen Bildungs- und Wissens-Infrastruktur des jeweiligen Landes abhängen. Das Normierende und Überwachende der textbook-Nutzungen tritt im Langzeitblick deutlich hervor: „monitoring“ ist das Verb, das bei der Lektüre immer wieder auffällt. Anordnen, Reformieren und Überwachen wird nicht nur in den vielen erwähnten Visitationen und den publizierten Übungsaufgaben sichtbar. Was der Langzeitblick auf das Lernmaterial ermöglicht, ist, dass das gezielte Befördern bestimmter Lernthemen – mit anleitenden Publikationen für Lehrende und Lernende sowie mit Methodenimporten teils aus dem Ausland – auch eine epochenübergreifende Konstante in der nordischen Bildung war und ist. Im Sinne der Grundausrichtung des Bandes wäre das ein Charakteristikum jener ausgemachten „Nordic DNA“. Es ist auch kulturelles „monitoring“, wenn Hochzeitswillige um 1800 die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens nachweisen mussten, um offiziell glücklich zu werden.

Es ist eine Stärke und Schwäche zugleich, dass die jeweiligen Kapitel großteils wie Kondensate verfasst sind. Für Überblickssuchende zu bestimmten Zeitphasen ist dies hilfreich, denn die selten über 10 Seiten Umfang verfügenden Ausführungen bieten schnelle Orientierung. Aber die drei in der Einleitung erwähnten „key perspectives“ sind nicht immer einfach zu finden und manchmal fast gar nicht vorhanden. Wie die Fülle an Details und epochalen und regionalen Ausprägungen zu einer Meistererzählung der Nordischen Bildungsgeschichte werden kann, obliegt dem akribischen Zusammenfügen der hoffentlich vielen Leserinnen und Leser dieses für die historische Bildungs- und Pädagogikforschung überaus ertragreichen Bandes. Ob das „Nordische“ wirklich in so eigenen Bildungs-Parametern beschreibbar ist, wie es der Band zu Beginn vermutet, erscheint nach der Langzeitperspektive jedoch fraglich. Zumindest für Zentral- und Westeuropa erscheinen die Muster und Dynamiken sehr bekannt. Für heutige Bildungspraktiker und -politiker mag zudem aus der Lektüre beruhigend sein, dass Bildungsplanungen und die Realität von Bildungserfolgen auch in den letzten 500 Jahren nicht immer deckungsgleich, aber stets reformbedürftig waren.